Der Hund der Baskervilles

   Kapitel 12

   Tod auf dem Moor

   Für einen oder zwei Augenblicke saß ich atemlos da und traute meinen Ohren kaum. Dann kehrten mein Verstand und meine Stimme zurück, während die schwer auf mir lastende Verantwortung im Nu von meinen Schultern gehoben zu werden schien. Diese kalte, schneidende, ironische Stimme konnte nur einem einzigen Mann auf der ganzen Welt gehören.

   „Holmes!“ schrie ich – „Holmes!“

   „Komm heraus“, antwortete er, „und sei bitte mit dem Revolver vorsichtig.“

   Ich bückte mich unter dem nackten Türsturz hindurch. Dort saß er, auf einem Stein vor der Hütte, seine grauen Augen vor Vergnügen blitzend, als er meinen erstaunten Ausdruck erblickte. Er war mager und abgezehrt, doch frisch und munter, sein scharf geschnittenes Gesicht war von der Sonne gebräunt und wettergegerbt. In seinem Tweedanzug und mit seiner Kappe sah er wie jeder andere Tourist auf dem Moor aus, und mit jener katzenartigen Neigung zur Reinlichkeit, die eine seiner hervorstechenden Eigenarten war, hatte er es fertig gebracht, dass sein Kinn so glatt und seine Kleidung so vollkommen waren, als ob er in der Baker Street wäre.

   „Nie im Leben war ich erleichterter, dich zu sehen“, sagte ich und schüttelte seine Hand.

   „Oder erstaunter, wie?“

   „Ja, das muss ich zugeben.“

   „Ich kann dir versichern, die Überraschung war nicht nur einseitig. Ich hatte keine Ahnung, dass du meinen Schlupfwinkel entdeckt hast, geschweige denn dass du drinnen warst, bevor ich zwanzig Schritte von der Tür entfernt war.“

   „Meine Fußabdrücke, vermute ich?“

   „Nein, Watson; ich fürchte, dass ich nicht in der Lage bin, deine Fußabdrücke unter allen Fußabdrücken der Welt herauszufi nden. Wenn du mich wirklich täuschen willst, so musst du deinen Tabakhändler wechseln, denn wenn ich einen Zigarettenstummel der Marke Bradley, Oxford Street, sehe, weiß ich, dass mein Freund Watson sich in der Nähe befi ndet. Du fi ndest ihn dort neben dem Weg. Zweifellos hast du ihn dort zu jenem kritischen Zeitpunkt weggeworfen, als du die leere Hütte erobert hast.“

   „Genau.“

   „Das dachte ich mir – und da ich deine bewundernswerte Kühnheit kenne, war ich überzeugt, dass du mit einer Waffe in Reichweite dem zurückkehrenden Bewohner in einem Hinterhalt aufl auerst. Also hast du wirklich geglaubt, ich sei der Verbrecher?“

   „Ich wusste nicht, wer du bist, aber ich war entschlossen, das herauszufi nden.“

   „Großartig, Watson! Und wie hast du mich gefunden? Hast du mich vielleicht in der Nacht gesehen, als der Sträfl ing gejagt wurde und ich so unvorsichtig gewesen bin, den Mond hinter mir aufgehen zu lassen?“

   „Ja, da habe ich dich gesehen.“

   „Und bestimmt hast du alle Hütten durchsucht, bis du auf diese gestoßen bist?“

   „Nein, dein Botenjunge ist beobachtet worden, so dass ich einen Anhaltspunkt hatte, wo ich die Suche beginnen sollte.“

   „Gewiss der alte Herr mit dem Teleskop. Ich habe nicht gleich erkannt, was es war, als ich das erste Mal das Licht sich in der Linse brechen sah.“ Er stand auf und spähte in die Hütte. „Ah, ich sehe, dass Cartwright einige Besorgungen gebracht hat. Was steht in dieser Notiz? Aha, du warst also in Coombe Tracey, nicht wahr?“

   „Ja.“

   „Um Mrs. Laura Lyons aufzusuchen.“

   „Stimmt.“

   „Gut gemacht! Unsere Nachforschungen haben sich offenbar in parallelen Bahnen bewegt, und wenn wir unsere Resultate zusammenfügen, so erwarte ich mir davon eine umfangreiche Kenntnis des ganzen Falles.“

   „Ich bin von ganzem Herzen froh, Holmes, dass du hier bist, denn die Verantwortung und das Rätsel selbst wurden allmählich zu viel für meine Nerven. Aber wie um alles in der Welt bist du hierher gekommen und was tust du hier? Ich dachte, du wärest in der Baker Street und arbeitetest an diesem Erpressungsfall!“

   „Das solltest du auch denken.“

   „Dann hast du mich also benutzt und mir doch nicht vertraut!“ rief ich bitter. „Ich dachte, ich hätte Besseres von dir verdient, Holmes.“

   „Mein lieber Freund, wie in vielen anderen Fällen warst du auch hier von unschätzbarem Wert für mich, und ich bitte dich, mir zu verzeihen, wenn es scheint, als hätte ich dich zum Narren gehalten. In Wirklichkeit tat ich es zum Teil dir zuliebe, und meine Einschätzung der Gefahr, in der du dich befi ndest, veranlasste mich, hierher zu kommen und die Sache selbst zu untersuchen. Wäre ich mit Sir Henry und dir zusammen gewesen, so wären mit Sicherheit meine Ansichten dieselben wie deine gewesen und meine Anwesenheit hätte unseren außergewöhnlichen Gegner dazu gebracht, auf der Hut zu sein. Auf diese Weise jedoch war ich in der Lage, mich überall frei zu bewegen, wie es mir nicht möglich gewesen wäre, wenn ich in Baskerville Hall gewohnt hätte, und ich bleibe ein unbekannter Faktor in der Affäre, bereit dazu, im kritischen Moment mein Gewicht in die Waagschale zu werfen.“

   „Aber warum hast du mich im Dunkeln tappen lassen?“

   „Hättest du davon gewusst, hätte das uns nicht weitergeholfen und womöglich zu meiner Entdeckung geführt. Du hättest mir etwas erzählen wollen oder in deiner freundlichen Art zu meiner Annehmlichkeit beitragen und mir etwas herausbringen wollen, wodurch ein unnötiges Risiko entstanden wäre. Ich habe Cartwright mit hergebracht – du erinnerst dich an den kleinen Kerl aus dem Expressbüro – und er hat sich um meine einfachen Bedürfnisse gekümmert: ein Laib Brot, ein sauberer Kragen. Was braucht ein Mann mehr? Durch ihn hatte ich ein zweites Paar Augen auf einem äußerst fl inken Paar Füße, beides von unschätzbarem Wert.“

   „Dann waren alle meine Berichte vergeblich!“ Meine Stimme zitterte, als ich mich der Mühe und des Stolzes erinnerte, mit denen ich sie verfasst hatte.

   Holmes entnahm seiner Tasche ein Bündel Papiere.

   „Hier sind deine Berichte, mein lieber Freund, und sorgfältig durchgearbeitet, das versichere ich dir. Ich habe alles gründlich vorbereitet, sie trafen hier jeweils mit nur einem Tag Verspätung ein. Ich darf dich außerordentlich beglückwünschen zu dem Eifer und der Intelligenz, die du bei diesem ungewöhnlich schwierigen Fall an den Tag gelegt hast.“

   Ich war noch immer etwas gekränkt, weil Holmes mich dermaßen hinters Licht geführt hatte, aber die Herzlichkeit seines Lobes wusch mir den Ärger von der Seele. Im Grunde meines Herzens war mir auch bewusst, dass er mit dem, was er sagte, Recht hatte und es für unsere Zwecke das Beste war, dass ich über seine Anwesenheit im Moor nicht im Bilde gewesen war.

   „So ist es besser“, sagte er, als er sah, wie sich meine Miene aufhellte. Und jetzt berichte mir von den Ergebnissen deines Besuches bei Mrs. Laura Lyons – es war nicht schwierig für mich zu erraten, dass du deshalb dorthin gefahren bist, denn mir ist schon klar, dass sie diejenige Person in Coombe Tracey ist, die uns in dieser Angelegenheit von Nutzen sein kann. Tatsächlich wäre ich mit großer Wahrscheinlichkeit morgen zu ihr gefahren, wenn du nicht heute gefahren wärest.“

   Inzwischen war die Sonne untergangen und die Dämmerung breitete sich über das Moor aus. Die Luft war kühl geworden und wir zogen uns in das wärmere Innere der Hütte zurück. Dort saßen wir im Zwielicht beieinander, während ich Holmes von meiner Unterhaltung mit der Dame erzählte. Dies interessierte ihn so sehr, dass ich manche Passage zweimal wiederholen musste, bevor er zufrieden war.

   „Das ist äußerst wichtig“, sagte er, als ich geendet hatte. „Dadurch schließt sich in dieser komplexen Affäre eine Lücke, die ich bislang noch nicht überbrücken konnte. Bist du dir übrigens dessen bewusst, dass zwischen dieser Dame und Stapleton eine enge Vertrautheit besteht?“

   „Ich wusste nichts von einer engen Vertrautheit.“

   „Darüber kann gar kein Zweifel bestehen. Sie treffen sich, sie schreiben sich, sie verstehen sich blendend. Dadurch halten wir eine machtvolle Waffe in der Hand – wenn ich sie nur nutzen könnte, um seine Frau von ihm zu befreien...“

   „Seine Frau?“

   „Ich werde dir nun zum Ausgleich für alles, was du mir gesagt hast, ein paar Informationen geben. Die Dame, die sich hier als Miss Stapleton ausgibt, ist in Wirklichkeit seine Frau.“

   „Gütiger Himmel, Holmes! Bist du dir sicher, was du da sagst? Wie konnte er Sir Henry gestatten, sich in sie zu verlieben?“

   „Sir Henrys Verliebtheit konnte niemandem schaden außer Sir Henry selbst. Er hat jedoch sorgfältig darauf geachtet, dass Sir Henry nicht weiter ging, wie du selbst beobachten konntest. Ich wiederhole, die Dame ist seine Frau und nicht seine Schwester.“

   „Aber wofür diese sorgfältige Täuschung?“

   „Weil er voraussah, dass sie als unverheiratete Frau für ihn sehr viel nützlicher sein würde.“

   All meine unausgesprochenen Vorahnungen und vagen Verdächtigungen nahmen plötzlich Gestalt an und zentrierten sich auf den Naturforscher. In diesem unbewegten und farblosen Mann mit seinem Strohhut und seinem Schmetterlingsnetz schien sich mir etwas Schreckliches zu zeigen – eine Kreatur von unendlicher Geduld und ebensolcher Geschicklichkeit mit lächelndem Gesicht und Mordgedanken.

   „Ist er dann unser Feind – ist er es, der uns in London beschattet hat?“

   „Das scheint mir des Rätsels Lösung.“

   „Und die Warnung – sie muss von ihr gekommen sein!“

   „Genau.“

   Konturen einer ungeheuren Gemeinheit, halb erkannt und halb vermutet, traten aus der Dunkelheit, die mich so lange umgeben hatte.

   „Aber bist du dir dessen sicher, Holmes? Woher weißt du, dass sie seine Frau ist?“

   „Weil er so unvorsichtig gewesen ist, einen wahren Teil seines Lebens zu erzählen, als er dich das erste Mal getroffen hat, und ich wage die Behauptung, dass er dies seitdem oftmals bedauert hat. Er war tatsächlich einst Schulleiter im Norden Englands. Nun kann kaum jemandem leichter nachgespürt werden als einem Schulleiter. Es gibt Schulbehörden, durch welche man jeden, der jemals in diesem Beruf gearbeitet hat, ausfi ndig machen kann. Eine kleine Nachforschung hat ergeben, dass eine Schule unter furchtbaren Umständen zugrunde gegangen ist und derjenige, der sie – unter einem anderen Namen – geleitet hatte, ist zusammen mit seiner Ehefrau verschwunden. Die Beschreibung passte. Als ich hörte, dass der Vermisste einen Hang zur Insektenkunde hatte, war er vollständig identifi ziert.“

   Das Dunkel lichtete sich, doch noch immer war vieles von Schatten verborgen.

   „Wenn diese Dame in Wahrheit seine Ehefrau war, wo kommt dann Mrs. Laura Lyons ins Spiel?“

   „Das ist einer der Punkte, auf welchen deine eigenen Nachforschungen ein Licht geworfen haben. Deine Unterhaltung mit der Dame hat die Situation ziemlich geklärt. Ich wusste nichts von einer geplanten Scheidung zwischen ihr und ihrem Ehemann. Da sie Stapleton für unverheiratet hielt, rechnete sie in diesem Fall sicherlich damit, seine Frau zu werden.“

   „Und wenn sie die Wahrheit erfährt?“

   „Nun, dann könnte die Dame vielleicht für uns von Nutzen sein. Unsere erste Pfl icht wird es sein, dass wir sie – wir beide – morgen aufsuchen. Glaubst du nicht, Watson, dass du nun schon recht lange deinen Pfl ichten ferngeblieben bist? Dein Platz sollte in Baskerville Hall sein.“

   Die letzten roten Streifen im Westen waren verblasst und Nacht hatte sich über das Moor gesenkt. Ein paar schwach leuchtende Sterne blinkten am violetten Himmel.

   „Eine letzte Frage, Holmes“, sagte ich, als ich aufstand. „Sicherlich bedarf es keiner Geheimniskrämerei zwischen uns. Was bedeutet das alles? Hinter wem oder was ist er her?“

   Die Stimme von Sherlock Holmes senkte sich zu einem Flüstern, als er antwortete:

   „Es ist Mord, Watson – abgebrühter, kaltblütiger, vorsätzlicher Mord. Frage mich nicht nach Einzelheiten. Mein Netz schließt sich um ihn, so wie seines sich um Sir Henry spannt, und mit deiner Hilfe ist er mir schon fast ausgeliefert. Es gibt nur eine Gefahr, die uns bedrohen kann, nämlich dass er losschlägt, bevor wir dazu bereit sind. Noch ein oder höchstens zwei Tage und der Fall ist gelöst, doch bis dahin sei auf der Hut und bewache deinen Schützling so sorgfältig wie eine Mutter ihr krankes Kind. Dein heutiger Ausfl ug war berechtigt, doch wünschte ich, du wärest nicht von seiner Seite gewichen. Horch!“

   Ein entsetzlicher Schrei – ein langgezogenes Geheul der Angst und des Schreckens – durchbrach die Stille des Moores. Das furchtbare Heulen ließ das Blut in meinen Adern gefrieren.

   „Oh, mein Gott!“ keuchte ich. „Was war das? Was bedeutet das?“

   Holmes war auf die Füße gesprungen und ich sah seine dunkle, athletische Gestalt im Türrahmen der Hütte mit gebeugten Schultern und vorgeneigtem Kopf in die Dunkelheit hinausspähen.

   „Psst!“ fl üsterte er, „Still!“

   Der Schrei war auf Grund seiner Heftigkeit laut erschienen, doch war er von irgendwo weit jenseits der schattigen Ebene gekommen. Jetzt aber erklang er von neuem, näher, lauter und drängender als zuvor.

   „Wo ist es?“ fl üsterte Holmes, und ich erkannte am Beben seiner Stimme, dass er, der Mann aus Eisen, bis ins Mark getroffen war. „Wo ist es, Watson?“

   „Dort, glaube ich.“ Ich deutete in die Dunkelheit.

   „Nein, dort!“

   Wieder erhob sich der qualvolle Schrei in der Stille der Nacht, noch lauter und noch viel näher als vorher. Und ein neuer Klang mischte sich hinein, ein tiefes, murmelndes Grollen, musikalisch, doch drohend, ansteigend und abebbend wie das tiefe, ständige Rauschen des Meers.

   „Der Hund!“ schrie Holmes. „Komm, Watson, komm! Um Gottes Willen, wenn wir zu spät kommen!“

   Er begann hastig über das Moor zu rennen und ich folgte ihm auf den Fersen. Doch nun erscholl von irgendwoher aus dem von Schlammlöchern durchsetzten Untergrund direkt vor uns ein letzter verweifelter Aufschrei und dann ein dumpfer, schwerer Schlag. Wir stoppten und lauschten. Kein einziger Laut durchbrach mehr die schwere Stille der windlosen Nacht.

   Ich sah, wie Holmes seine Hand einem Wahnsinnigen gleich gegen seine Stirn schlug. Er stampfte mit dem Fuß auf den Boden.

   „Er hat uns geschlagen, Watson. Wir sind zu spät.“

   „Nein, nein, bestimmt nicht!“

   „Ich war ein Narr, dass ich mich zurückgehalten habe! Und du, Watson, siehst du, was passiert, wenn du deine Pfl ichten vernachlässigst! Doch bei Gott, wenn das Schlimmste geschehen ist, werden wir ihn rächen!“

   Blind rannten wir durch die Finsternis, stießen gegen Felsen, erkämpften unseren Weg durch Stechginster, keuchten Hügel hinauf und rutschten Abhänge hinunter, immer der Richtung entgegen, aus welcher die schrecklichen Töne gekommen waren. Auf jeder Anhöhe schaute sich Holmes aufmerksam um, doch die Dunkelheit lag bleiern über dem Moor und nichts bewegte sich auf seinem öden Antlitz.

   „Kannst du irgend etwas erkennen?“

   „Nichts.“

   „Doch horch, was ist das?“

   Ein leises Stöhnen war an unser Ohr gedrungen. Da war es wieder, zu unserer Linken! Auf dieser Seite ging ein Felsgrat in eine steile Wand über, die über einen steinbedeckten Abhang hinausragte. Auf seiner zerklüfteten Oberfl äche lag etwas Dunkles, Unregelmäßiges. Als wir darauf zurannten, wurde aus dem vagen Umriss eine deutlich erkennbare Gestalt. Es war ein mit dem Gesicht nach unten liegender Mann, dessen Kopf in furchtbarem Winkel unter seinem Körper steckte, mit gekrümmten Schultern und den Körper so verdreht, als ob er im Begriff sei, einen Purzelbaum zu schlagen. Seine Haltung war dermaßen grotesk, dass ich mir zunächst nicht darüber im Klaren war, dass das Stöhnen, das wir gehört hatten, der letzte Seufzer seiner sterblichen Hülle gewesen war. Kein Flüstern, kein Rascheln erhob sich mehr von der dunklen Gestalt, über die wir uns beugten. Holmes legte seine Hand auf ihn und zog sie mit einem Aufschrei des Entsetzens zurück. Der Schein des Streichholzes, das er anzündete, beleuchtete seine beschmierten Finger und die grausige Lache, die sich langsam um den zerschmetterten Schädel des Opfers ausbreitete. Und er beleuchtete noch etwas anderes, das unsere Herzen sich verkrampfen ließ – die Leiche von Sir Henry Baskerville!

   Keiner von uns hatte diesen seltsamen rostroten Tweedanzug vergessen können, den er an jenem ersten Morgen getragen hatte, als wir ihn in der Baker Street gesehen hatten. Nach diesem einen kurzen Blick auf ihn ging das Streichholz ebenso aus wie die Hoffnung in unseren Herzen. Holmes stöhnte und sein Gesicht schimmerte weiß durch die Dunkelheit.

   „Das Scheusal! Das Scheusal!“ rief ich mit geballter Faust. „Oh, Holmes, ich werde mir niemals verzeihen, ihn diesem Schick167 sal überlassen zu haben.“

   „Ich muss mir mehr Vorwürfe machen als dir, Watson. Damit ich meinen Fall schön rund und vollständig abschließen konnte, habe ich das Leben meinen Klienten verloren. Das ist der schlimmste Schlag, den ich in meiner Karriere je erhalten habe. Aber wie konnte ich ahnen – wie konnte ich ahnen! –, dass er entgegen all meinen Warnungen sein Leben allein auf dem Moor aufs Spiel setzt?“

   „Dass wir seine Schreie gehört haben – oh mein Gott, diese Schreie! – und doch außer Stande waren, ihn zu retten! Wo ist diese Bestie von einem Hund, die ihn zu Tode gebracht hat? Sie lauert vielleicht gerade in diesem Augenblick zwischen diesen Felsen. Und Stapleton, wo ist er? Er soll für diese Untat zur Rechenschaft gezogen werden.“

   „Das wird er, dafür werde ich sorgen. Onkel und Neffe sind ermordet worden – der eine wurde zu Tode erschreckt durch den Anblick eines Untiers, das er für übernatürlich hielt, der andere stürzte auf der Flucht vor der Bestie zu Tode. Doch jetzt müssen wir den Zusammenhang zwischen dem Mann und dem Ungeheuer beweisen. Abgesehen von dem, was wir hörten, können wir noch nicht einmal die Existenz des letzteren beschwören, da Sir Henry ganz offensichtlich durch den Sturz zu Tode kam. Aber beim Himmel, so schlau er auch sein mag, der Kerl soll mir ausgeliefert sein, noch bevor ein weiterer Tag vergangen ist.“

   Mit Bitterkeit im Herzen standen wir neben dem verstümmelten Leichnam, überwältigt von dieser plötzlichen und unwiderrufl ichen Tragödie, die all unsere langwierigen und mühevollen Anstrengungen zu einem erbärmlichen Ende gebracht hat. Dann ging der Mond auf, wir stiegen auf den Gipfel des Felsens, von welchem unser Freund herabgestürzt war, und blickten von der Höhe aus über das schattige, halb in Silber und halb in Düsternis getauchte Moor hinweg. Viele Kilometer weit entfernt, in Richtung der Ortschaft Grimpen, schien ein einzelnes gelbes Licht ruhig vor sich hin. Es konnte sich nur um das einsame Haus der Stapletons handeln. Fluchend drohte ich mit meiner Faust in dieser Richtung.

   „Warum sollten wir ihn nicht sofort ergreifen?“

   „Unser Fall ist noch nicht abgeschlossen. Dieser Bursche ist in höchstem Maße schlau und vorsichtig. Es geht nicht darum, was wir wissen, sondern was wir beweisen können. Wenn wir auch nur einen falschen Schritt unternehmen, wird uns der Schurke noch entkommen.“

   „Was können wir tun?“

   „Es gibt morgen genug zu tun für uns. Heute Nacht können wir unserem armen Freund nur einen letzten Dienst erweisen.“

   Wir gingen zusammen den steil abfallenden Hang hinunter bis zu der Leiche, die sich schwarz und deutlich gegen die silbrigen Steine abhob. Der Todeskampf, den diese verkrümmten Gliedmaßen ausdrückten, verursachte mir selbst schmerzhafte Qualen und meine Augen füllten sich mit Tränen.

   „Wir müssen nach Hilfe schicken, Holmes! Wir können ihn nicht allein den ganzen Weg bis nach Baskerville Hall tragen. Gütiger Himmel, bist du wahnsinnig geworden?“

   Er hatte einen Schrei ausgestoßen und sich über die Leiche gebeugt. Jetzt tanzte er, lachte und drückte meine Hand. Konnte dies mein strenger, selbstbeherrschter Freund sein? Er besaß wirklich versteckte Emotionen!

   „Ein Bart! Ein Bart! Der Mann trägt einen Bart!“

   „Einen Bart?“

   „Es ist nicht der Baronet – es ist –, ja, es ist mein Nachbar, der entfl ohene Sträfl ing!“

   In fi ebriger Hast drehten wir den Leichnam herum, und der blutige Bart wies auf den kalten, klaren Mond. Es konnte keinen Zweifel geben über diese buschigen Augenbrauen und die eingefallenen Augen eines Tieres: Das war in der Tat dasselbe Gesicht, das mich im Kerzenschein von der anderen Seite des Felsens angestarrt hatte, das Gesicht von Selden, dem Verbre169 cher.

   Dann wurde mir im Handumdrehen alles klar. Ich erinnerte mich, wie der Baronet mir erzählt hatte, dass er seine alten Kleidungsstücke Barrymore gegeben hatte. Dieser wiederum hatte sie an Selden weitergegeben, um ihm bei seiner Flucht zu helfen. Schuhe, Hemd, Mütze – alles hatte Sir Henry gehört. Auch wenn die Tragödie immer noch schlimm genug war, so hatte dieser Mann doch immerhin nach den Gesetzen seines Landes den Tod verdient. Während ich Holmes über diese Dinge in Kenntnis setzte, hüpfte mein Herz vor Dankbarkeit und Freude.

   „Dann haben die Kleidungsstücke den Tod dieses armen Teufels verursacht“, sagte er. „Es ist ganz klar, dass der Hund mit Hilfe eines persönlichen Gegenstands Sir Henrys auf seine Spur gebracht wurde – aller Wahrscheinlichkeit nach der Schuh, der im Hotel abhanden gekommen war – und daher diesem Mann nachjagte. Allerdings gibt es da noch einen merkwürdigen Umstand: Wie konnte Selden in der Dunkelheit wissen, dass der Hund hinter ihm her war?“

   „Er hörte ihn.“

   „Ein harter Mann wie dieser Sträfl ing würde deswegen, weil er einen Hund auf dem Moor hört, in solche Angst versetzt werden, dass er es riskiert, wieder gefangen genommen zu werden, indem er laut um Hilfe ruft. Nach seinen Schreien zu urteilen muss er eine ganze Weile gerannt sein, nachdem ihm klar geworden war, dass der Hund hinter ihm her jagte. Doch woher wusste er das?“

   „Für mich ist es ein größeres Rätsel, warum dieser Hund, angenommen, alle unsere Mutmaßungen waren richtig...“

   „Ich nehme nichts an.“

   „...wie auch immer, warum dieser Hund in der Nacht frei herumlief. Ich gehe davon aus, dass er nicht die ganze Zeit auf dem Moor frei herumläuft. Stapleton würde ihn nicht freilassen, ohne davon auszugehen, dass sich Sir Henry dort aufhält.“

   „Mein Problem ist doch das größere von beiden, denn ich glaube, dass wir bald für deine Frage eine Erklärung bekommen werden, während die Antwort auf meine wohl immer ein Geheimnis bleiben wird. Die Frage, die sich aber jetzt stellt, ist, was wir mit der Leiche dieses armen Schluckers anfangen sollen. Wir können sie nicht hier den Füchsen und Raben überlassen.“

   „Ich schlage vor, sie in eine der Hütten zu bringen, bis wir der Polizei Bescheid geben können.“

   „Eine gute Idee, ich schätze, dass wir sie zusammen so weit tragen können. Hallo, Watson, was ist das? Da kommt der Mann höchstpersönlich, bei allen Göttern! Kein Wort, das unseren Verdacht verraten könnte – kein Wort, oder mein Plan wird scheitern!“

   Eine Gestalt näherte sich uns über das Moor und ich sah das schwache rote Glühen einer Zigarre. Der Mond schien über ihm und so konnte ich die gepfl egte Gestalt und den schwungvollen Gang des Naturforschers erkennen. Als er uns erblickte, hielt er einen Moment inne und kam dann zu uns herüber.

   „Na so was, Dr. Watson, Sie sind es, nicht wahr? Sie sind der letzte Mensch, den ich zu dieser Stunde auf dem Moor erwartet hätte! Aber mein Gott, was ist das? Jemand verletzt? Nein – sagen Sie bloß nicht, das sei unser Freund Sir Henry!“ Er lief an mir vorbei und beugte sich über den Toten. Ich hörte, wie er scharf den Atem einzog, und die Zigarre fi el aus seiner Hand.

   „Wer – wer ist das?“ stammelte er.

   „Das ist Selden, der Mann, der aus Princetown entfl ohen war.“

   Mit entsetzter Miene hatte Stapleton uns angesehen, doch unterdrückte er mit großer Anstrengung sein Erstaunen und seine Enttäuschung.

   „Mein Gott! Was für ein furchtbares Erlebnis! Wie ist er gestorben?“

   „Anscheinend hat er sich das Genick gebrochen, als er diese Felsen hinabstürzte. Mein Freund und ich spazierten gerade über das Moor, als wir einen Schrei hörten.“

   „Auch ich habe einen Schrei gehört; deshalb bin ich hinausgelaufen. Ich machte mir Sorgen um Sir Henry.“

   „Warum gerade um Sir Henry?“ konnte ich mich nicht beherrschen zu fragen.

   „Weil ich ihm vorgeschlagen hatte, zu Besuch herüber zu kommen. Ich war überrascht, als er nicht kam, und natürlich war ich um seine Sicherheit besorgt, als ich vom Moor her Schreie hörte. Übrigens -“, seine Augen wanderten von meinem Gesicht zu Holmes, „haben Sie außer dem Schrei noch etwas gehört?“

   „Nein“, sagte Holmes. „Sie?“

   „Nein.“

   „Was meinten Sie denn dann?“

   „Ach, Sie kennen doch die Geschichten, die die Bauern über den Geisterhund und so erzählen. Sie sagen, man könne ihn des Nachts im Moor hören. Ich habe mich gefragt, ob es heute Nacht vielleicht Anzeichen eines solchen Geräuschs gegeben hat.“

   „Wir haben nichts dergleichen gehört“, sagte ich.

   „Und was für eine Theorie haben Sie hinsichtlich des Todes dieses armen Kerls?“

   „Ich habe keine Zweifel, dass die Angst vor Entdeckung ihn in den Wahnsinn getrieben hat. Er rannte wie ein Verrückter auf dem Moor hin und her, bis er schließlich hier herunter fi el und sich das Genick brach.“

   „Das scheint mir die vernünftigste Erklärung zu sein“, sagte Stapleton und seufte, wie es mir schien, erleichtert auf. „Was halten Sie davon, Mr. Sherlock Holmes?“

   Mein Freund beglückwünschte ihn.

   „Sie haben mich schnell erkannt“, sagte er.

   „Wir erwarten Sie in dieser Gegend, seit Dr. Watson hierher gekommen ist. Sie sind rechtzeitig gekommen, um ein schlimmes Unglück zu erleben.“

   „Ja, wirklich, und ich zweifl e nicht, dass die Erklärung meines Freundes zutrifft. So werde ich morgen eine unangenehme Erinnerung mit nach London nehmen.“

   „Oh, Sie fahren morgen schon zurück?“

   „Das beabsichtige ich.“

   „Ich hoffe, Ihr Besuch konnte etwas Licht in diese Angelegenheit bringen, die uns so viel Kopfzerbrechen bereitet hat.“

   Holmes zuckte die Achseln.

   „Man kann nicht immer den Erfolg haben, den man sich erhofft. Ein Detektiv benötigt Fakten und nicht Legenden oder Gerüchte. Es war kein sonderlich befriedigender Fall.“

   Mein Freund sprach auf offenherzigste und gleichgültigste Weise. Stapleton musterte ihn immer noch eindringlich. Dann wandte er sich mir zu.

   „Ich würde ja vorschlagen, dass wir diesen armen Kerl in mein Haus tragen, aber das würde meine Schwester zu sehr erschrecken, als dass ich es guten Gewissens tun könnte. Ich glaube, wenn wir etwas über seinen Kopf decken, wird ihm wohl bis morgen nichts geschehen.“

   Und so machten wir es. Nachdem wir einer Einladung Stapletons zu ihm nach Hause widerstanden hatten, machten wir uns auf den Weg nach Baskerville Hall, während der Naturforscher alleine zurückkehrte. Als wir ihm nachblickten, sahen wir seine Gestalt sich langsam über das weitläufi ge Moor fortbewegen, und von ferne erkannten wir auch noch jenen dunklen Fleck auf dem silbrig schimmernden Abhang, der uns die Stelle wies, wo der Mann lag, der hier ein solch furchtbares Ende gefunden hatte.