Zwanzigtausend Meilen unter'm Meer

   Zweiundzwanzigstes Capitel.

   Letzte Worte des Kapitän Nemo.

   Die Läden wurden nach diesem erschrecklichen Anblick geschlossen, aber das Licht im Salon nicht wieder angezündet. Im Inneren des Nautilus nur Dunkel und Schweigen. Er verließ diesen heillosen Ort, hundert Fuß unter'm Wasser, mit reißender Schnelligkeit. Wohin fuhr er? nord- oder südwärts? Wohin floh dieser Mann nach der grauenhaften Racheübung?

   Ich begab mich zurück in mein Zimmer, wo Ned und Conseil sich schweigend befanden. Ich empfand ein unüberwindliches Grauen vor dem Kapitän Nemo. Was er auch von Seiten der Menschen erlitten haben mochte, so zu strafen war er nicht befugt. Er hatte mich, wenn auch nicht zum Mitschuldigen, doch zum Zeugen seiner Unthat gemacht! Das war schon zu viel.

   Um elf Uhr kam das elektrische Licht wieder zum Vorschein. Ich begab mich in den Salon. Er war leer. Ich besorgte die verschiedenen Instrumente. Der Nautilus floh nordwärts mit einer Schnelligkeit von fünfundzwanzig Meilen die Stunde, bald auf der Oberfläche des Meeres, bald dreißig Fuß darunter.

   Ein Blick auf die Karte zeigte mir, daß wir am Eingang des Canals fuhren, und unsere Richtung uns mit unvergleichlicher Schnelligkeit in die nördlichen Meere führte.

   Am Abend hatten wir zweihundert Lieues des Atlantischen Meeres zurückgelegt. Es wurde Nacht und das Meer war mit Dunkel bedeckt bis zum Aufgang des Mondes.

   Ich begab mich wieder in mein Zimmer, konnte nicht schlafen; ich war von Alpdrücken geplagt. Die grauenhafte Vernichtungsscene stand immer erneuert vor meinem Geist.

   Seit diesem Tag, wer konnte sagen, bis zu welchem Punkt im Nordatlantischen Meer der Nautilus uns schleppte? Stets mit einer nicht zu schätzenden Schnelligkeit! Stets inmitten hyperboräischer Nebel. Berührte er die Vorgebirge Spitzbergens oder die Küsten von Novaja Semlia? Durchlief er das Weiße Meer, das Meer von Kara, den Busen des Ob, den Archipel Lizarow und die unbekannten Gestade der Asiatischen Küste? Ich kann es nicht sagen, und konnte auch die verflossene Zeit nicht berechnen. Die Uhren an Bord standen stille; Tag und Nacht schienen nicht mehr regelmäßig auf einander zu folgen.

   Ich schätze – aber vielleicht irre ich mich – daß diese abenteuerliche Fahrt des Nautilus vierzehn bis zwanzig Tage dauerte, und ich weiß nicht, wie lange sie gedauert haben würde ohne die Katastrophe, womit diese Reise endigte. Vom Kapitän Nemo war nicht mehr die Rede; auch nicht von seinem Lieutenant. Nicht ein Mann von den Bootsleuten ließ sich nur einen Augenblick sehen. Fast beständig fuhr der Nautilus unter'm Wasser, und wenn er zur Lufterneuerung auftauchte, öffneten oder schlossen sich die Lucken automatisch. Die Lage wurde nicht mehr eingetragen; ich wußte nicht, wo wir uns befanden.

   Auch der Canadier, dessen Geduld und Kraft erschöpft war, ließ sich nicht mehr sehen. Conseil konnte nicht ein Wort aus ihm herausbringen und fürchtete, er möge in einem Anfall von Wahnsinn oder von erschrecklichem Heimweh getrieben, Hand an sich legen. Er überwachte ihn daher jeden Augenblick mit Hingebung.

   Es ist begreiflich, daß unter diesen Umständen die Lage unhaltbar war.

   Eines Tages – wann, kann ich nicht angeben – war ich gegen Morgen eingeschlafen, – ein peinlicher und krankhafter Schlaf. Als ich aufwachte, sah ich Ned-Land über mich gebeugt und hörte ihn leise sagen:

   »Wir wollen entfliehen!«

   Ich richtete mich auf.

   »Wann wollen wir fliehen? fragte ich.

   – In nächster Nacht. Jede Ueberwachung scheint vom Nautilus verschwunden. Man meint, es herrsche Verstörung an Bord. Werden Sie bereit sein, mein Herr?

   – Ja. Wo befinden wir uns?

   – Im Angesicht von Land, das ich diesen Morgen mitten im Nebel zwanzig Meilen östlich wahrgenommen habe.

   – Was für Land?

   – Ich weiß nicht, aber es sei was es wolle, wir wollen dahin fliehen.

   – Ja! Ned. Ja, wir fliehen diese Nacht, sollte uns auch das Meer verschlingen!

   – Das Meer ist schlimm, der Wind stark, aber zwanzig Meilen in dem leichten Boot des Nautilus zu machen, ist für mich nichts Erschreckliches. Ich habe unbemerkt einige Lebensmittel und einige Flaschen Wasser hin schaffen können.

   – Ich schließe mich an.

   – Uebrigens, fügte der Canadier bei, wenn ich ertappt werde, wehr' ich mich, lasse mich umbringen.

   – Dann werden wir mit einander sterben, Freund Ned.«

   Ich war zu Allem entschlossen. Der Canadier verließ mich. Ich begab mich auf die Plateform, wo ich mich gegen den Wellenschlag kaum halten konnte. Der Himmel war drohend, aber da im dichten Nebel Land in der Nähe war, so mußte man fliehen. Kein Tag und keine Stunde war zu verlieren.

   Ich kam in den Salon zurück, fürchtete und wünschte zugleich den Kapitän Nemo zu treffen, wollte und wollte nicht mehr ihn sehen. Was hätte ich ihm sagen können? Konnte ich ihm das unwillkürliche Grauen verhehlen, das er mir einflöße? Nein. Besser war, nicht mehr vor sein Angesicht zu kommen! Besser war, ihn vergessen! Und doch!

   Wie wurde mir dieser Tag lang, der letzte, den ich an Bord des Nautilus verleben sollte! Ich blieb allein. Ned-Land und Conseil vermieden mit mir zu reden, aus Furcht sich zu verrathen.

   Um sechs Uhr speiste ich, aber ich hatte keinen Hunger. Ich zwang mich wider Willen zu essen, um nicht an Kräften schwächer zu werden.

   Um halb sieben kam Ned-Land auf mein Zimmer und sagte:

   »Wir werden uns vor unserer Abfahrt nicht wieder sehen. Um zehn Uhr ist der Mond noch nicht aufgegangen, und die Dunkelheit wird uns zu Gute kommen. Kommen Sie zum Boot. Ich werde mit Conseil Sie dort erwarten.«

   Darauf entfernte sich der Canadier, ehe ich Zeit hatte, ihm zu antworten.

   Ich wünschte über die Richtung des Nautilus Auskunft zu haben, und begab mich in den Salon. Wir fuhren Nord-Nord-Ost unter erschrecklicher Geschwindigkeit bei fünfzig Meter Tiefe.

   Ich warf einen letzten Blick auf diese Wunder der Natur, auf die in diesem Museum gehäuften Schätze der Kunst, auf diese unvergleichliche Sammlung, die einst in der Tiefe des Meeres zugleich mit ihrem Gründer zu Grunde gehen sollte. Ich wünschte in meinem Geist einen letzten Eindruck festzuhalten. Eine Stunde lang blieb ich hier, in der hellen Beleuchtung die Schätze musternd, welche unter ihren Glaskästen glänzten. Darauf kehrte ich auf mein Zimmer zurück.

   Hier zog ich dauerhafte Meerkleidung an, nahm meine Notizen zusammen und steckte sie wie Kostbarkeiten zu mir. Mein Herz pochte gewaltig; seine Schläge ließen sich nicht hemmen. Gewiß, meine Unruhe, meine Aufregung würden mich dem Kapitän Nemo verrathen haben.

   Was that er in diesem Moment? Ich horchte an der Thüre seines Zimmers; hörte da Fußtritte. Der Kapitän war darin; er hatte sich nicht zu Bette gelegt. Bei jeder Bewegung kam es mir vor, er werde zu mir treten und mich fragen, weshalb ich fliehen wolle! Ich empfand unablässige Beunruhigung. Meine Einbildungskraft vergrößerte sie noch. Diese Empfindungen waren so peinigend, daß ich mich fragte, ob es nicht besser wäre, in's Zimmer des Kapitäns zu treten, ihm gerade in's Angesicht zu sehen, mit Blick und Geberde zu trotzen!

   Ein wahnsinniger Gedanke. Glücklicherweise that ich's nicht, und legte mich auf mein Bett, um die körperliche Aufregung in mir zu stillen. Meine Nerven wurden ein wenig ruhiger, aber bei der Ueberspannung meines Gehirns überblickte ich in rascher Erinnerung mein ganzes Leben an Bord des Nautilus, alle die glücklichen oder unglücklichen Erlebnisse seit meinem Verschwinden vom Abraham Lincoln bis zu der gräßlichen Scene des mit seiner Mannschaft versenkten Schiffes. Da erschien mir der Kapitän Nemo über die Maßen groß, als ein Charakter von übermenschlichen Verhältnissen, der seines Gleichen nicht hatte.

   Es war damals halb zehn Uhr. Ich hielt meinen Kopf mit beiden Händen, damit er nicht zerspringe. Ich schloß die Augen; wollte nicht mehr denken. Also noch eine halbe Stunde! Das Warten konnte mich zum Narren machen!

   In dem Augenblick vernahm ich die Accorde der Orgel, eine traurige Harmonie, eine unbeschreibliche Melodie, den klagenden Ausdruck einer Seele, welche ihre irdischen Bande sprengen will. Ich lauschte mit allen Sinnen zugleich, kaum athmend, gleich dem Kapitän Nemo in die musikalische Entzückung versenkt, welche ihn über die Grenzen dieser Welt hinauszog.

   Darauf erschreckte mich ein plötzlicher Gedanke. Der Kapitän Nemo befand sich in dem Saal, durch welchen ich kommen mußte, um zu entfliehen. Hier sollte ich ihn zum letzten Male treffen. Er würde mich sehen, vielleicht mit mir sprechen! Eine Bewegung von ihm konnte mich vernichten, ein einziges Wort mich an seinen Bord fesseln!

   Indessen war es gleich zehn Uhr. Der Zeitpunkt war gekommen, wo ich mein Zimmer verlassen und zu meinen Gefährten mich begeben mußte.

   Es war nicht mehr zu zögern, sollte auch der Kapitän Nemo mir entgegen treten. Ich öffnete behutsam meine Thüre, und doch schien mir's, als knarrte sie in den Angeln. Vielleicht bildete ich mir's auch nur ein.

   Ich schlich weiter durch die dunkeln Gänge des Nautilus, hielt bei jedem Schritt inne, um mein Herzklopfen zu unterdrücken.

   Als ich an der Eckthüre des Salons ankam, öffnete ich leise. Der Salon lag in tiefem Dunkel; die Accorde der Orgel klangen schwach. Der Kapitän Nemo befand sich da, sah mich aber nicht. Ich glaube sogar, bei hellem Tageslicht hätte er mich nicht bemerkt, so sehr war er in Entzücken versunken.

   Ich schlich auf dem Teppich und vermied das geringste Geräusch, das meine Anwesenheit verrathen hätte. Ich brauchte fünf Minuten, um zu der Thüre zu gelangen, welche zur Bibliothek führte.

   Ich war im Begriff, sie zu öffnen, als ein Seufzen des Kapitäns mich an der Stelle fesselte. Er stand auf, kam auf mich zu, mit gekreuzten Armen, schweigend, schwebend wie ein Gespenst. Er schluchzte aus gedrückter Brust, und ich hörte ihn murmeln – die letzten Worte, die ich aus seinem Munde vernahm:

   »Allmächtiger Gott! Genug! Genug!«

   War's ein Ausdruck von Gewissensbissen? ...

   Ganz bestürzt eilte ich in die Bibliothek. Ich stieg die Mitteltreppe hinauf und gelangte durch den oberen Gang zum Boot. Durch die Oeffnung, welche bereits meinen beiden Gefährten gedient hatte, stieg ich ein.

   »Fort nur! fort! rief ich.

   – Im Augenblick!« erwiderte der Canadier.

   Die in dem Eisenblech des Nautilus ausgeschnittene Oeffnung wurde erst geschlossen, und mit einem englischen Schlüssel, den sich Ned-Land zu verschaffen gewußt hatte, zugeschraubt. Eben so auch die Oeffnung des Bootes, und der Canadier fing an die Schrauben zu öffnen, welche uns noch am unterseeischen Boot fest hielten.

   Da vernahm man plötzlich ein Geräusch innen; Stimmen in lebhaftem Wortwechsel. Was gab's? Hatte man unsere Flucht gemerkt? Ned-Land steckte mir stille einen Dolch in die Hand.

   »Ja! murmelte ich, wir werden zu sterben wissen!«

   Der Canadier hatte mit seiner Arbeit inne gehalten. Doch ein Wort, zwanzigmal wiederholt, ein fürchterliches Wort, enthüllte mir die Ursache dieser unruhigen Bewegung an Bord des Nautilus. Uns galt die Aufregung nicht!

   »Maelstrom! Maelstrom!« rief es.

   Der Maelstrom! Ein schrecklicheres Wort in einer schrecklicheren Lage hätten wir nicht hören können. Wir befanden uns also an dieser gefährlichen Stelle der norwegischen Küste? Ward der Nautilus in diesen Abgrund gerissen im Moment, wo unser Boot sich von ihm los zu machen im Begriff war?

   Bekanntlich bilden die zwischen den Farör- und Loffoden-Inseln eingeengten Gewässer zur Zeit der Fluth einen Strudel mit unwiderstehlicher Gewalt, dem noch niemals irgend ein Schiff entronnen ist. Von allen Seiten des Horizonts her strömen ungeheuerliche Wogen hier zusammen, und die Anziehungskraft dieses Strudels erstreckt sich auf eine Entfernung von fünfzehn Kilometer, so daß nicht allein Schiffe, sondern auch die Wallfische und Eisbären fortgerissen werden.

   Hierhin war der Nautilus von seinem Kapitän – ohne, oder vielleicht mit Willen – geleitet worden. Er beschrieb eine Spirallinie, deren Umfang stets enger wurde. Mit ihm wurde auch das noch daran befestigte Boot in schwindelhaftem Zug fortgerissen. Todesschrecken befiel uns, im höchsten Grauen stockte das Blut, kalter Schweiß drang auf die Stirne! Und welches Getöse um unser zerbrechliches Boot herum! Ein Brausen, das vom Echo wiederholt gehört wurde. Ein Krachen der Wogen, die sich auf den Felsenspitzen meilenweit brachen im tiefen Grunde, wo die härtesten Körper zerschmettert werden.

   Welche Lage! Wir wurden gräßlich hin und her geschleudert. Der Nautilus vertheidigte sich, daß seine eisernen Muskeln krachten.

   »Wir müssen wacker fest halten, sagte Ned, und die Schrauben wieder befestigen! Bleiben wir am Nautilus fest, so können wir uns noch retten!« ...

   Er hatte noch nicht ausgeredet, als es krachte. Die Schrauben mangelten, das Boot wurde aus seinem Gehäuse gerissen und wie ein Stein aus einer Schleuder mitten in den Strudel geworfen.

   Mein Kopf wurde wider einen eisernen Rahmen geschmettert, und bei der heftigen Erschütterung verlor ich die Besinnung.

Text from zeno.org
Audio from librivox.org